Der Apfelsammler by Anja Jonuleit

Der Apfelsammler by Anja Jonuleit

Autor:Anja Jonuleit [Jonuleit, Anja]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: dtv
veröffentlicht: 2014-07-17T22:00:00+00:00


Elisabeth

Ich habe die Mutter nie wiedergesehen. Sie starb im September 1981 an Bauchspeicheldrüsenkrebs, der einen Monat zuvor diagnostiziert worden war. Ich erinnere mich genau an jenen Tag, als ich das zweite Mal nach all den Jahren das Friedhofstor öffnete und durch die Reihen der toten Dorfbewohner ging, von denen ich die meisten beim Namen kannte. Als ich jedoch den mir bekannten Weg einschlug und in die zweite Reihe beim Brunnen einbog, hielt ich erstaunt inne. Hier waren kein frisch ausgehobenes Grab, keine Kranzorgie, kein Holzkreuz mit wehendem Schleier. Hatte ich mich in der Reihe geirrt? Mit zögernden Schritten ging ich weiter und stand schließlich am Grab des Vaters, das eigentlich nur aus einer Grabplatte bestand, in die sein Name eingraviert war. Sonst nichts. Kein Datum, kein »geliebter Vater«, wie das sonst üblich war in Mosisgreuth, wo die Familien die zärtlichen Worte füreinander erst nach dem Tod finden.

Ratlos stand ich vor dem Grab herum, als ich plötzlich auf der anderen Seite des Friedhofs eine Frau mit Lady-Di-Frisur bei einem frischen Grab stehen sah, die ein Kind an der Hand hielt: meine Schwester. Erst als ich sie fast erreicht hatte, sagte ich: »Grüß dich Gott, Sophie.«

Sie fuhr herum und starrte mich an. »Du?«

Das Kind, ein winziges blondes Ding mit einer »Palme« auf dem Kopf, sah mit großen Augen zu mir hoch, schwankte ein wenig und plumpste auf seinen dicken Windelpo. Die Kleine verzog keine Miene, Sophie bückte sich und stellte sie wieder auf die Füße.

»Das ist also die Hannah?«, fragte ich und bückte mich, um das runde Gesichtchen, das daunenweiche, fast weiße Haar und das gesmokte rosa Hängerchen zu betrachten. Dann richtete ich mich wieder auf und blickte Sophie an.

Ich sah, wie es in ihr arbeitete. Die Knöchel ihrer linken Hand, in der sie eine Gießkanne hielt, traten weiß hervor.

»Woher weißt du ihren Namen?«

Ich erwiderte ihren Blick, ohne mit der Wimper zu zucken.

»Die Mutter hat’s mir geschrieben.«

Ein überraschter Ausdruck flackerte über ihr Gesicht und schließlich sagte ich: »Du hast es also nicht für nötig befunden, mich zu benachrichtigen.«

»Dich benachrichtigen?!«, stieß sie aus. »Warum hätt ich das tun sollen? Du hast dich doch nie für uns interessiert!«

»Hör mal, Sophie. Du weißt nicht mal die Hälfte von dem, was ich hier erlebt habe. Also solltest du vielleicht nicht so eine dicke Lippe riskieren.«

Einen stummen Augenblick lang kreuzten wir die Klingen, bis ich in etwas versöhnlicherem Ton fragte: »Und die Mutter? Warum liegt sie hier?«

Sophies Gesichtsausdruck erschlaffte. Sie wandte sich zur Seite und blickte auf den Hügel mit den Kränzen. Als ich schon glaubte, sie würde mir nicht antworten, stieß sie verächtlich die Luft durch die Nase aus und sagte: »Als die Mutter gehört hat, dass sie krank ist, war ihre größte Sorg, dass sie nicht zu dem da hineinkommt.« Sie machte eine Bewegung mit dem Kinn in die Richtung, aus der ich gerade gekommen war. »Und ich hab dafür gesorgt, dass ihr Wunsch erfüllt worden ist.« Sie richtete sich auf, mit vorgerecktem Kinn. Einen Moment lang erkannte ich mich in ihr wieder. Diesen Trotz, die hilflose Wut, den Hass.



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